»Gemeinsam ist aber allen Kompositionen, unabhängig von ihrer Entstehungszeit, das Festhalten an der wenn auch oft frei behandelten Tonalität, am melodischen Einfall und der (zum mindesten angestrebten) geschlossenen Form. Bestrebungen der kompositorischen ‚Avantgarde‘ verfolge ich mit Interesse, aber mein Weg ist nicht der des Experimentierens mit dem Material; auch habe ich, außer zu Übungszwecken, mich nie einer wie auch immer gearteten Reihentechnik bedient. Natürlich bemühe ich mich, eine eigenständige Musik zu komponieren, ich schreibe aber das Wort ’neu‘ klein, und der Grad der ‚Aktualität‘ und somit des derzeitigen Marktwertes interessiert mich wenig.
Zwar überkommen mich gelegentlich Zweifel, ob heutiges Komponieren überhaupt noch sinnvoll ist. Aber die Freude am eigenen Erfinden hat sich bisher immer noch stärker erwiesen als alle Bedenken. Wenn die Musik, die ich schreibe, auch nach einem gewissen zeitlichen Abstand mir selbst gefällt und darüber hinaus einigen Menschen, deren Urteil mir wichtig ist, etwas zu sagen hat, bin ich durchaus zufrieden.«
Diese zentrale Aussage – formuliert am Ende einer etwa 1989 verfaßten Kleinen Selbstbiographie (In: Kurt Hessenberg, Beiträge zu Leben und Werk, hrsg. v. Peter Cahn, 1990 Main) – charakterisiert inhaltlich wie auch in ihrer unprätentiösen Art das Selbstverständnis Kurt Hessenbergs. Seine Ausbildung erhielt der schon als Kind komponierende Hessenberg neben seinem Privatmusiklehrer-Studium in Leipzig bei dem nur wenig älteren Günter Raphael; ein Unterricht, welcher der handwerklichen Strenge des musikalischen Historismus der »Leipziger Schule« verpflichtet war, den jungen Hessenberg jedoch freiließ für den eigenen Werdegang. Die Begegnung mit Kompositionen Johann Sebastian Bachs wurde zentrales Erlebnis seiner Studienzeit. Unter dem Eindruck der Bachschen Musik entstanden zwei Orgelwerke, ein Cembalokonzert und Kammermusik. Später distanzierte Hessenberg sich von den Arbeiten dieser frühen Kompositionsphase.
Mit der Rückkehr nach Frankfurt Anfang der Dreißiger Jahre beginnt die Emanzipation von den Einflüssen der Studienzeit. Ein ungebrochenes Verhältnis zur musikalischen Romantik, insbesondere zu dem Werk Johannes Brahms und Max Regers, bereichert die nun folgenden Werke. Ab dem 1. Streichquartett op. 8 wird die musikalische Sprache sinnlicher und musikantischer, der Satz geschmeidiger und durchsichtiger. Zeitgenössische Musik, zunächst die Paul Hindemiths und später die Béla Bartóks, bringt wichtige Impulse für das eigene Schaffen, wie etwa im 2. Streichquartett op. 16, das Hessenberg als »relativ ‚progressiv’« bezeichnet und als seine erste größere, »stilistisch einheitliche« Arbeit betrachtet. Diese Musik ist mit dissonanten Klangschärfen und -härten durchsetzt, wobei die freie Tonalität auf einer Verfremdung der Konsonanz beruht und die Melodik in hohem Maße chromatisch durchsetzt ist.
Zum Höhepunkt einer Reihe von Uraufführungen geriet 1939 die erste Aufführung des Concerto grosso für Orchester op. 18 durch den Dirigenten Gotthold E. Lessing beim Internationalen Musikfest in Baden-Baden. Wilhelm Furtwängler, durch das 2. Steichquartett auf den Komponisten aufmerksam geworden, führte das Concerto mehrere Male mit den Berliner Philharmoniker in Hamburg, Berlin und Dresden auf. Der Dirigent äußerte sich in Briefen sehr anerkennend über Hessenberg und leitete 1944 die Uraufführung der zweiten Symphonie op. 29 in Berlin.
Noch während des Krieges setzte – beginnend mit der Arbeit am Psalmen-Triptychon op. 36 – eine Verlagerung des kompositorischen Schwerpunktes in Richtung geistliche Musik ein. Zudem löste die positive Resonanz der Presse auf dieses Werk und die Auszeichnung der Kantate Vom Werden und Vergehen op. 45 mit dem Robert-Schumann-Preis der Stadt Düsseldorf im Jahre 1951 zahlreiche Anfragen nach vokalen Werken aus, denen Hessenberg vor allem im Bereich der Kirchenmusik nachkam. Doch schuf Hessenberg besonders in der Zeit nach seiner Emeritierung 1973 auch zahlreiche Werke anderer Gattungen, darunter die Konzerte für Klavier op. 88, für Violine op. 96, für Violoncello op. 100 und für Fagott op. 106 und sein wohl bedeutendstes Streichquartett Nr. 6 op. 98.
Hessenbergs Schaffen deckt nahezu alle Bereiche der Kunstmusik ab: es reicht von schlichter Gebrauchsmusik und choralgebundener Orgelmusik für den Gottesdienst über Klavier- und Kammermusik, Lieder, A-cappella-Chöre, Chorwerke mit Orchester, oratorische Formen und Symphonien bis zur Oper. Dabei gilt die folgende Bewertung für Hessenbergs Gesamtwerk: »Seine Orgelmusik verbindet Satzstrenge mit harmonischer Farbigkeit, Linearität mit melodischer Expressivität, formale Dichte bzw. Konstruktivität mit Liebenswürdigkeit und Wärme der musikalischen Tonsprache. Es ist eine Musik, die Grenzen überschreitet und zwischen extremen stilistischen Positionen vermittelt.« (Rainer Mohrs: Die Orgelwerke von Kurt Hessenberg. In: Kurt Hessenberg, Beiträge zu Leben und Werk, hrsg. v. Peter Cahn, 1990 Main, S. 117)
Wolfgang Mechsner